Ein folgenschwerer Unfall: Linksabbieger gegen überholendes Motorrad
Landgericht Kiel: Urteil vom 11.10.2023, Az. 10 O 78/20
Ein schwerer Unfall zwischen einem linksabbiegenden Pkw und einem überholenden Motorradfahrer beschäftigte das Landgericht Kiel. Später befasste sich auch das Oberlandesgericht mit dem Fall. Die Entscheidung ist wichtig für Haftungsquoten, Sorgfaltspflichten und Schmerzensgeld. Themen wie doppelte Rückschaupflicht, unklare Verkehrslage und Geschwindigkeitsüberschreitung standen im Mittelpunkt.
Der Unfallhergang
Am 17.06.2018 kam es auf der Bundesstraße 4 zu einer Kollision. Ein Pkw-Fahrer wollte links abbiegen. Er setzte nach eigenen Angaben den Blinker und verringerte die Geschwindigkeit. Der Motorradfahrer hinter ihm setzte gleichzeitig zum Überholen an. Es kam zum Unfall.
Der Motorradfahrer wurde schwer verletzt. Er erlitt eine Sprengung des Schultergelenks (Rockwood 5) sowie Schürfwunden und eine Wundheilungsstörung. Seine Beweglichkeit ist dauerhaft eingeschränkt. Er kann den linken Arm nicht mehr über die Horizontalebene heben.
Streitpunkte vor Gericht
Der Pkw-Fahrer gab an, rechtzeitig geblinkt zu haben. Der Motorradfahrer bestritt dies. Er behauptete, der Blinker sei entweder gar nicht oder zu spät gesetzt worden. Unklar war auch, ob der Pkw-Fahrer die doppelte Rückschaupflicht nach § 9 Abs. 1 StVO beachtet hatte.
Ein weiteres Thema war die Geschwindigkeit des Motorradfahrers. Die Beklagte behauptete, er sei mindestens 70 km/hschnell gewesen, obwohl nur 50 km/h erlaubt waren. Der Motorradfahrer räumte eine Überschreitung auf 55-60 km/hein, bestritt aber eine höhere Geschwindigkeit.
Das Landgericht entschied auf eine Haftungsverteilung von 80 % zu Lasten des Pkw-Fahrers und 20 % zu Lasten des Motorradfahrers. Diese Bewertung beruhte auf mehreren Faktoren.
Die rechtlichen Grundlagen
1. Anscheinsbeweis gegen den Linksabbieger
Ein Unfall beim Linksabbiegen spricht für ein Verschulden des Abbiegenden. Nach § 9 Abs. 1 StVO muss er sich vergewissern, dass kein anderer Verkehrsteilnehmer gefährdet wird. Dazu gehört der Blick in den Spiegel und über die Schulter.
2. Überholen bei unklarer Verkehrslage
Laut § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO darf bei unklarer Verkehrslage nicht überholt werden. Ein langsamer werdendes Fahrzeug mit gesetztem Blinker kann eine solche Situation schaffen.
3. Geschwindigkeit des Motorradfahrers
Die Beklagte argumentierte, dass der Motorradfahrer durch seine Geschwindigkeit eine erhöhte Betriebsgefahrverursacht habe. Dies könnte zu einer höheren Haftungsquote für ihn führen.
Entscheidung des Landgerichts
Das Landgericht Kiel entschied, dass 80 % der Haftung auf den Pkw-Fahrer entfallen. Der Motorradfahrer trägt ein 20%iges Mitverschulden. Entscheidende Punkte waren:
- Verstoß gegen die doppelte Rückschaupflicht des Pkw-Fahrers
- Keine klare Beweislage für eine extreme Geschwindigkeitsüberschreitung
- Unklare Verkehrslage, die das Überholen riskant machte
Der Motorradfahrer erhielt 35.000 € Schmerzensgeld, davon wurden bereits gezahlte 6.000 € angerechnet.
Berufung und Aufhebung des Urteils
Die Beklagte legte Berufung ein. Sie argumentierte, das Landgericht habe nicht alle Beweise berücksichtigt. Vor allem ein unfallanalytisches Sachverständigengutachten fehlte. Dieses hätte die Geschwindigkeit des Motorrads klären können.
Das Oberlandesgericht sah dies als Verfahrensfehler. Es hob das Urteil auf und verwies den Fall zurück an das Landgericht Kiel. Im neuen Verfahren müssen folgende Fragen geklärt werden:
- Wie schnell war das Motorrad tatsächlich?
- Hätte der Motorradfahrer den Unfall bei 50 km/h vermeiden können?
- Wurde der Blinker des Pkw frühzeitig gesetzt?
- Welche Auswirkungen hat der Unfall auf die Erwerbsfähigkeit des Klägers?
Fazit
Der Fall zeigt die Komplexität von Verkehrsunfällen:
- Anscheinsbeweis spricht meist gegen den Linksabbieger.
- Unklare Verkehrslage kann ein Mitverschulden des Überholenden begründen.
- Geschwindigkeit beeinflusst die Haftungsverteilung.
Das Verfahren zeigt, wie wichtig eine gründliche Beweiserhebung ist. Das neue Urteil wird künftige Entscheidungen zu ähnlichen Unfällen beeinflussen.